Fluchtpunktperspektive einfach erklärt

Fluchtpunktperspektive: Grundlage für 500 Jahre Kunstgeschichte

Was ist die Fluchtpunktperspektive?

Perspektivische Raumillusion bei Masaccio: Dreifaltigkeitsfresko
Die erste streng perspektivische
Raumillusion der Kunstgeschichte:
"Das Dreifaltigkeitsfresko" von Masaccio, ca. 1428

Die Fluchtpunktperspektive ist ein einfaches, aber sehr effektives Verfahren, um auf einer zweidimensionalen Bildfläche (z.B. ein Blatt Papier oder eine Leinwand) einen dreidimensionalen Bildeindruck zu erschaffen. Wir verdanken sie einigen Künstlern der Frührenaissance, vor allem Leon Batista Alberti, Filippo Brunellesci und Massaccio (siehe Abbildung). Die Idee des Bildes als Illusionsraum ist gleichwohl rund einhundert Jahre älter: bereits bei Giotto öffnet sich dieser Bildraum als Bühne - wobei Giotto noch nicht die Fluchtpunktperspektive als Konstruktionsverfahren kannte. Er staffelte seine Bilder eher wie Kulissen auf einer Schauspielbühne. Mehr dazu siehe hier: Giotto die Bondone: Wegbereiter der Renaissance.

Mit Hilfe der Fluchtpunktperspektive kann man einen Bildraum erschaffen, in dem man prinzipiell alles darstellen kann. Das eröffnete ungeahnte Möglichkeiten - und die Entwicklung der Kunst bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt, wie vielfältig diese Möglichkeiten genutzt wurden. Es war die Leistung der Kubisten (z.B. Braque, Picasso, Gris), der Expressionisten (z.B. Matisse) sowie der abstrakten Kunst (z.B. Kandinsky, Mondrian, Malewitsch), den Weg der Raumillusion auf Bildern zu verlassen, um neue Qualitäten auf der zweidimensionalen Bildfläche zu entdecken.

Jeder kann perspektivisch zeichnen

Was bedeutet das nun? Um dieses fundamentale Prinzip der Malerei und Zeichnung zu verstehen, zeige ich im Folgenden eine kurze Anleitung, wie man auf einem flachen Bild einen dreidimensionalen Eindruck erzeugt. Wer mag, kann es zuhause ausprobieren: es ist kinderleicht.

Schritt 1: wir zeichnen einen Kreis, gerne auch freihand. Im Zweifelsfall wird es ein grober unregelmäßiger Stein.

Kreis auf einer weißen Fläche
Ein Kreis auf einer weißen Fläche bzw. auf einem Blatt Papier

Sieht das wie eine Raumillusion aus? Nein. Also weiter. Als nächstes zeichnen wir eine horizontale Linie, allerdings nicht durch den Kreis, sondern "dahinter" (!).

Horizontlinie hinter dem Kreis
Horizontlinie hinter dem Kreis

Die Formulierung "hinter dem Kreis" zeigt schon, dass wir räumlich denken. Aber so richtig räumlich sieht das immer noch nicht aus. Als nächstes zeichnen wir eine senkrechte Linie, von der Horizontlinie beginnend bis nach unten.

Die erste Fluchtlinie definiert den Fluchtpunkt
Die erste Fluchtlinie definiert den Fluchtpunkt

Den Schnittpunkt von Horizontlinie und Fluchtlinie bezeichnet man als Fluchtpunkt. Alle Linien, die im Raum (den wir zeichnerisch erschaffen) parallel verlaufen, treffen sich im Fluchtpunkt. Da wir nun den Fluchtpunkt im Bild definiert haben, können wir nun im Folgenden eine Reihe weiterer Fluchtlinien einzeichnen, die alle genau bis zum Fluchtpunkt verlaufen.

O Wunder: ein (Bild-)Raum entsteht
O Wunder: ein (Bild-)Raum entsteht

Und wie aus dem Nichts entsteht so die Grundlage einer Raumillusion. Ohne Zirkel oder Lineal, ganz simpel und kinderleicht. Mit Hilfe der perspektivischen Linien haben wir eine Art "Feld" bzw. weite Landschaft erschaffen.

Genau das ist die sensationelle Leistung der Frührenaissance-Künstler: auf einem flachen Bild einen "Bildraum" zu erschaffen. Dieser Bildraum wird zum Bühnenraum und eröffnet als solcher unfassbar viele Möglichkeiten, ihn zu füllen. Man konnte Menschen auf Bildern "zum Leben erwecken" (z.B. Jesus Christus), man konnte Phantasiewesen erschaffen (z.B. Drachen bei Paolo Uccello) oder ganze Fabelwelten ist Diesseits holen (z.B. die Hölle von Hieronymus Bosch).

Als Zeichenübung kann man die oben vorbereitete Skizze nun noch etwas weiter treiben, indem man zum Beispiel an der entfernten Horizontlinie eine Art Hügelkette hinzufügt, oder einen Halbkreis, oberhalb der Horizontlinie, als Sonne (hinter dem Horizont kann nur die Sonne sein - oder der Mond).

Plastizität durch Licht und Schatten

Die zweite sehr wichtige künstlerische Erfindung geht mit dem Bildraum Hand in Hand: die Illusion von Plastizität (Körperlichkeit). Um das zu verstehen, kann man den Kreis mit Hilfe von Schatten (bzw. Licht und Schatten) in eine Kugel verwandeln, indem man einen Verlauf von der hellen Oberseite hin zu einer dunklen Unterseite zeichnet.

Mit Hilfe von Licht und Schatten werden Dinge im Bildraum plastisch
Mit Hilfe von Licht und Schatten werden Dinge im Bildraum plastisch

All das (und noch einiges mehr) bewirkt, dass der Bildraum noch mehr an Illusionskraft gewinnt.

Position im Raum: Schatten

Fehlt noch eines: wo genau befindet sich unsere Kugel nun im Raum? Um das zu klären, braucht sie noch einen Schatten im Raum. Um zu verdeutlichen, was mit der Raumillusion alles möglich ist, werden wir die Kugel, die sicherlich mindestens eine Tonne wiegen würde, nun schweben lassen. Als Schöpfer des Bildes sind wir quasi allmächtig. Dazu zeichnen wir den Schatten unter der Kugel einfach mit etwas Abstand, so dass der Schatten nicht die Unterseite der Kugel berührt.

Mit Hilfe von Licht und Schatten werden Dinge im Bildraum plastisch
Mit Hilfe von Licht und Schatten werden Dinge im Bildraum plastisch

So einfach - und doch so effektiv. Wir haben eine tonnenschwere Kugel zum Schweben gebracht!

Farbperspektive

Abschließend sei noch erwähnt, dass man mit Hilfe von Farbe die Tiefenwirkung des Bildes verstärken kann. In der Ferne wirkt alles blass, grau, oft blau. Die Nähe des Bildraumes hingegen ist kontrastreich, mit kräftigen Farben, vor allem Rot und Brauntöne sind in Landschaften dominant. Siehe dazu die beiden Themen Luftperspektive und Farbperspektive.

Die Farbperspektive unterstützt die Fluchtpunktperspektive
Die Farbperspektive unterstützt die Fluchtpunktperspektive

Die gezeigten Grafiken dienen der Veranschaulichung des Prinzips. Die künstlerische Herausforderung liegt nun darin, den Bühnenraum durch eine geeignete Komposition "zu bespielen". Denn man darf nicht vergessen, dass es eine Diskrepanz von gemalten Raum und der flachen Bildfläche gibt. Die geschickte Verzahnung von formaler Malfläche und Raumillusion ist das Geheimnis zahlreicher herausragender Werke der Kunstgeschichte.

Übrigens: die Konstruktion eines Bildes mit Hilfe eines (zentralen) Fluchtpunktes nennt man auch Zentralperspektive. Hier noch einmal eine Zusammenfassung der wichtigsten Begriffe am Beispiel einer Architekturvedute:

Perspektive - Architektur
Architektur-Vedute (Gemäldegalerie Berlin) - Fluchtpunkt und Fluchtlinien - exemplarische Konstruktionslinien

Hinweis für Lehrer bzw. für die Nutzung im Unterricht

Das hier gezeigte Tutorial erklärt hoffentlich eine ganze Menge. Insbesondere erleichtert es das Verständnis der kunsthistorischen Entwicklung. Aber: nach meiner Erfahrung bringt es nichts, dieses Prinzip zu früh zu erklären. Kinder bis zu einem Alter von ca. 11 bis 12 Jahren haben anderes im Sinn, wenn sie (aus sich heraus) malen und zeichnen. In der Regel interessiert sie nicht "das Bild als Bühnenraum", sondern eher die Darstellung phantastischer Lebenswelten.

Ich würde daher empfehlen, die Fluchtpunktperspektive erst ab einem Alter von ca. 12 oder 13 Jahren zu erklären. Zudem sollte man sich immer bewusst machen, dass der Bühnenraum als Qualitätsmerkmal von Kunst längst ausgedient hat. Das Wissen darum eignet sich vor allem, um alte Gemälde zu verstehen. Auch wenn es immer einige (wenige) Schülerinnen und Schüler gibt, die dieses Wissen für eigene Bilder nutzen wollen, so ist der Großteil doch eher an Mustern, Ornamenten oder Collagen interssiert.

Es wäre bedauerlich, wenn man durch dogmatische Aufgabenstellungen den Schülerinnen und Schülern den Spaß am Bildermalen rauben würde. Die Fluchtpunktperspektive ist eines von sehr vielen Bildkonstruktionsverfahren - zwar mit einer sehr langen Tradition, aber eben nur eines.

Ansonsten kann man die oben gezigten Grafiken im Unterricht gerne nutzen. Ich habe das vielfach erprobt, und fast alle Schülerinnen und Schüler verstehen das, weil es einfach anschaulich und verständlich ist.

Arbeitsblätter zum Thema Perspektive, die ich mit Schülern bearbeite:

  1. Aufgabe: Plastische Körper zeichnen
  2. Frührenaissance: Perspektive: Bild als Illusionsraum, Künstler
  3. Aufgabe: Grundlagen Zentralperspektive zeichnen

Wenn man sich nicht für das "Bild als Bühnenraum" interessiert, sondern nur einzelne Gegenstände oder Dinge räumlich zeichnen will, kann man dafür gerne auch den Parallelperspektive: räumlich Zeichnen ohne Fluchtpunkt lesen.

Weitere Artikel zum Thema Perspektive:

Weitere Tutorials

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