Fenster-Durchschnitt nach Dürer
Wie in dem Artkel über die Grundlagen des perspektivischen Zeichnens erwähnt, war auch Albrecht Dürer bahnbrechend hinsichtlich der theoretischen und praktischen Weiterentwicklung der Perspektive. Er hat allerdings nicht nur über die Perspektive geschrieben, oder sie in seinen Bildern angewandt, nein, er hat uns auch zwei Holzschnitte hinterlassen, die sehr genau darstellen, wie Dürer schwierige. komplexe Formen mit Hilfe einer technischen Apparatur konstruierte. Einer dieser Holzschnitte ist "Der Zeichner der Laute" von 1526.
Der Zeichner der Laute
Die folgende Grafik veranschaulich eine etwas komplizierte, aber plausible Methode, wie man ein perspektivisches Bild konstruieren kann:
Eine Laute ist ein sehr komplizierter Körper. Entsprechend schwierig ist es, sie mit der Verjüngung des Lautenhalses korrekt auf ein Blatt Papier zu bringen. Im Holzschnitt hat Dürer eine sehr pfiffiges Konstruktionsmethode festgehalten: An einem Tisch ist ein (Fenster-) Rahmen befestigt (rechts im Bild). Auf dem Tisch liegt die Laute. In dem Rahmen ist mit einem Scharnier ein Bildträger angebracht, der in das Fenster eingeklappt, aber auch aufgeklappt werden kann. An der Wand hinter dem Tisch (rechts) ist ein Haken befestigt, durch den eine Schnur mit einem Gewicht läuft. Am anderen Ende der Schnur ist ein Stock angebracht, der ein leichteres Hantieren ermöglicht.
Der Haken als Betrachter
Wie kann man damit nun eine perspektives Zeichnung erstellen, so wie es das Blatt in dem Holzschnitt anzeigt? Ganz einfach: Der Haken in der Wand entspricht dem Betrachter des zukünftigen Bildes. Von ihm aus gehen die Sehstrahlen ab. Der Künstler hält nun das Ende der Schnur an einen bestimmten Punkt. Ein Gehilfe markiert nun exakt die Stelle, an der die Schnur durch das Fanster tritt. Er tun die vermutlich mit zwei dünnen Holzstangen, die er von zwei Seiten aus so festhält, dass sie sich genau an der Schnur kreuzen (natürlich ohne den geraden Lauf der Schnur zu stören).
Der Künstler lässt nun das Ende der Schnur locker, klappt den Bildträger im Rahmen zu und zeichnet genau an der Stelle, die der Gehilfe mit den gekreuzten Stöckern fixiert hat, einen Punkt auf den Bildträger. Dieser Punkt entspricht exakt dem, den er vorher an der Laute markiert hatte. Nach und nach werden so alle relevanten Punkte des Gegenstandes auf dem Bildträger eingezeichnet. Am Ende muss der Künstler nur noch die Punkte auf dem Bildträger verbinden, und erhält so eine exakte perspektivische Darstelleung dieses sehr schwierig zu zeichnenden Instruments.
Analyse der Perspektive in Dürers Holzschnitt
Natürlich hat Dürer seinen Holzschnitt ebenfalls perspektivisch angelegt. Der Fluchtpunkt liegt auf der Wand unterhalb des ausgestreckten Armes. Merkwürdigerweise laufen nur fast alle Fluchtlinien auf diesen Fluchtpunkt zu. Das Fenstersims links weicht davon ab. Bei dem Fenstersims rechts ist es nicht klar zu ermitteln. Warum Dürer diesen Fehler gemacht hat, ist unklar. Denkbar wäre, dass er die Vorzeichnung mit dem Fenstersims began und plante, die Horizontlinie genau auf dieser Fenstersims-Linie anzulegen. Dann bemerkte er, dass die Verjüngung der oberen Fläche der Laute zu klein gewesen wäre. Das Instrument wäre dann eventuell nicht auf den ersten Blick identifizierbar gewesen. Ergo verlagerte er den Fluchtpunkt (und damit die Horizontlinie) etwas nach oben. Dadurch ist die Laute gut erkennbar. Es ist allerdings unklar, warum er in dem anschließenden Holzschnitt diesen Fehler nicht korrigierte. Vielleicht hat er es schlicht vegessen.
Aus heutiger "moderner" Sicht könnte man auch interpretieren, dass Dürer bewusst diesen Fehler angelegt hat. Denn ein Bild ist eben ein Bild. Ein Bild zeigt nicht reale räumliche Tiefe, sondern es simuliert räumliche Tiefe mit Hilfe der Perspektive. Als Künstler konstruiert man nicht exakte Kopien der Welt, sondern man erschafft eigene Bildwelten. Der Fehler in der Fensterbank könnte ein Beleg für Dürers selbstbewusstes Künstler-Verständnis sein. Rückblickend betrachtet ist das allerdings unwahrscheinlich.
Was Dürer nun gemeint haben könnte, oder ob es tatsächlich ein Fehler ist, bleibt dem Betrachter überlassen. Merkwürdigerweise findet sich in der umfangreichen Dürer-Literatur kein Hinweis darauf.
Zwei Perspektiven in einem Bild
Das Besondere an diesem Bild ist, dass es quasi zwei Perspektiven gibt: da ist zum einen der Haken an der Wand, der quasi stellvertretend für den zukünftigen Betrachter des Bildes steht. Dieser Haken "schaut" auf die Spitze der Laute. Und dann ist da natürlich der Betrachter des Holzschnitts. Der beobachtet sich quasi beim Beobachten. Oder um es mit Paul Valery zu sagen: "Ich sehe mich mich sehen".
Die Abbildung rechts veranschaulicht das. Der Holzschnitt zeigt einen virtuellen Betrachter (A1), der einen Punkt auf der Laute (A3) anvisiert. Dieser Punkt wird in dem "Fensterdurchblick" fixiert (A2).
Der Betrachter des Holzschnitts, also "ich" (B1) sieht nun diesen Punkt auf der Zeichnung (B2). Der Punkt B2 entspricht somit auch dem Punkt A3 - aber das ist das Besondere einer perspektivischen Zeichnung: Realität und Abbild verschmelzen. Die Illusion von Wirklichkeit (Siehe dazu: Die Illusion des Bildraumes).
Mehr zur Perspektive
- Fluchtpunktperspektive: Erschaffung eines Bildraumes
- Parallelperspektive: Bildraum ohne Fluchtpunkt
- Perspektive [1]: perspektivisch zeichnen mit Fluchtpunkt und Fluchtlinien
- Kunsthistorische Entwicklung der Perspektive
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